Hier ist das Menü
Das dreiteilige Altarbild ist ein Werk des Berliner Malers Johannes Heisig. Es entstand als Auftragswerk für die Gelliehäuser Kirche und wurde im Pfingstgottesdienst 2002 eingeweiht. Es entstand unter dem Eindruck des Anschlags auf das New Yorker World Trade Zentrum am 11. September 2001.
Über das Gelliehäuser Altarbild gibt es einen interessanten Artikel aus dem art-magazin, Ausgabe: 08/2002, Seite 70-75, welchen nachfolgend wiedergegeben ist.
Ein
Bild für 348 Seelen
Von Tim Sommer Ingo Bulla
Die niedersächsische Gemeinde Gelliehausen wollte endlich ein
richtiges Altarbild für ihre Kirche. Der Berliner Künstler Johannes Heisig
wurde beauftragt, es zu malen - und hat der Dorfgemeinschaft ein Denkmal
gesetzt. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit ...
Ausgerechnet Sodom und Gomorrha. Wenn anderswo Dorfkirchen saniert
werden, kommt ein Fresko vom Marienleben zu Tage, Heiligenlegenden oder Szenen
aus dem Neuen Testament. Etwas Tröstliches jedenfalls, an dem sich der Bauer
aufrichten konnte nach dem drückenden Tagwerk. Aber die grausame Geschichte von
den in tiefe Sünde verfallenen Städten, auf die ein rachsüchtiger Gott Feuer
und Schwefel regnen lässt - das ist selten. Und gibt Anlass zum Grübeln: Was
muss die mittelalterliche Gemeinde verbrochen haben, dass ihr Hirte oder
Feudalherr ein solches Menetekel an die Kirchenwand malen ließ?
Immerhin: Falls Gelliehausen jemals ein Sündenpfuhl war, scheint
die Warnung gewirkt zu haben. Heute käme keiner auf den Gedanken, dass die
Gemeinde sich abseits vom rechten Wege befindet. Hier im niedersächsischen
Harzvorland, wo sich Deutsche Alleenstraße, Deutsche Fachwerkstraße und
Deutsche Märchenstraße kreuzen, liegt das idyllische Haufendorf wie aus dem
Bilderbuch. Umrahmt von sanften Hügeln mit Mischwaldkuppen und fetten Weiden
für die Schwarzbunten hocken die Fachwerkhöfe zusammen, krumme Gassen
dazwischen, am Weiher das Amtshaus, wo der "Erfinder der deutschen
Kunstballade" Gottfried August Bürger seine "Leonore" dichtete.
Und am Rande des Dorfes die winzige Kirche aus dem 15.
Jahrhundert, das Pfarr- und das Herrenhaus. Hier regiert der evangelische
Pastor Burghard Jaeckh, dort Georg Freiherr von Uslar-Gleichen. Der hat als
Patron immerhin noch das Recht, der Gemeinde ihren neuen Pfarrer zu
präsentieren, und im Kirchenvorstand ist er geborenes Mitglied unter lauter
gewählten. Für die Renovierung der Kirche aber muss er nicht mehr sorgen. Die
stand Mitte der neunziger Jahre an, als sich Risse in den Wänden und Schäden am
Fundament zeigten. Und damit begann die Geschichte des umgekehrten Bildersturms
von Gelliehausen, der dem Dorf nicht nur das denkwürdige Fresko, sondern auch
einen nagelneuen Altar bescherte.
Denn im zuständigen kirchlichen Amt für Bau- und Kunstpflege sitzt
mit Horst Wetzel ein bilder- und risikofreudiger Mann, der schon der
Salvatoris-Kirche von Clausthal-Zellerfeld zu einem Altar von Werner Tübke (art
8/1997), der Schlosskapelle von Gifhorn zu einem Bild von Johannes Grützke und
der Kirche von Luttrum zu einer Kopf-über-Kreuzigung von Georg Baselitz
verholfen hat. Zumindest diese Kunstaktion endete als Debakel. Die Gemeinde
probte den Aufstand, erst verschwand das teure Geschenk hinter einem Vorhang,
dann ging es zurück an den Maler. Eine Lehre für Horst Wetzel: Für die Künstler
aus dem Westen gelte das Motto "Friss oder stirb". Ein Altarbild aber
muss angenommen werden von einer Gemeinde, die es ja benutzen will. Sie muss es
als ihr Bild begreifen. Sie muss in die Rolle des Auftraggebers schlüpfen und
im Künstler einen Partner finden. Und diese Bereitschaft zum Entgegenkommen
hatte er bislang eben vor allem bei den auftragserprobten Künstlern aus dem
Osten vorgefunden.
In Gelliehausen bot auch der Innenraum der Kirche ein trostloses
Bild. Zwar wird das Gerücht ebenso geflissen verbreitet wie dementiert, Jaeckhs
im Unfrieden aus dem Amt geschiedener Vorgänger habe das alte Kirchengestühl
samt Altar und Kanzel als sentimentalen Nippes dem Osterfeuer überantwortet -
aber verschwunden war die Ausstattung nun mal seit 1985. Statt dessen gab es
stocknüchterne "Apfelsinenkisten", mit grüner Schilftapete überzogen.
Der Unmut wuchs in der Gemeinde, Kollekten wurden der Neuausstattung gewidmet.
Der Boden war also bereitet. Und Wetzel vermittelte wieder einen
Kontakt zwischen Kirchenvorstand und Künstler. Zunächst zu Bernhard Heisig.
Aber der Altmeister der Leipziger Schule empfahl nach einem Besuch vor Ort und
einiger Bedenkzeit seinen Sohn und Schüler Johannes Heisig, geboren 1953, von 1989
bis 1991 Rektor der Dresdner Hochschule für Bildende Künste. Der kam im
Frühjahr 2000 mit Katalogen und einem Ausstellungsplakat nach Gelliehausen ins
Pfarrhaus, wo der versammelte Kirchenvorstand ihn erwartete. Sämtlich
Kunstlaien, "die bei Picasso vielleicht denken, dass es sich um eine
besondere Art Ofengrill handelt oder um eine Pizza", wie der Baron
bemerkt. Pastor Jaeckh jedenfalls stimmte erst mal ein frommes Lied an - was
den Künstler aus Kreuzberg doch ziemlich verblüffte. Zwar fand man Heisigs
Bilder recht düster, ihn aber sympathisch. Zwei Jahre sollte es dauern, bis
sein Bild aus Berlin-Kreuzberg nach Gelliehausen kam. Wenn die Kunst noch ein
Dogma kennt, dann ist es ihre absolute Freiheit. Und die musste, so viel war
sicher, hier geopfert werden. Allerdings waren bei der Gemeinde die Vorbehalte
fast größer als beim Künstler. Man wollte etwas aus dem Neuen Testament haben,
ein Bild, das man in frohen Stunden betrachten kann und in verzweifelten Lagen,
ein modernes Bild sollte es sein - aber nichts Abstraktes. Konkretere
Vorstellungen wurden nicht formuliert, obwohl Heisig darauf drängte: "Ich
wollte, dass von Anfang an klar ist, das ist unser gemeinsames Bild."
Er kam mehrmals nach Gelliehausen, machte die
Himmelfahrtswanderung samt Waldgottesdienst mit und zeichnete dabei. Dann
besuchte er Einzelne aus der Gemeinde für Porträtsitzungen. "Das sind
Beichtsituationen", sagt er, herausgehoben aus dem Alltag, wo vieles zur
Sprache kommt, was sonst verschwiegen wird. Da habe er schnell gemerkt, dass
"da viel unterm Teppich ist". Dass die immer wieder beschworene
Gemeinschaft in einem Dorf, wo "jeder drei Uniformen von drei Vereinen im
Schrank hat" durchaus ihre Abgründe hat, weil ein Ausweichen hier nicht
möglich ist und Konflikte oft über Generationen vererbt werden. Als biblische
Themen hatte Heisig zwei Szenen aus dem Neuen Testament gewählt. Der schlafende
Jesus und die ängstlichen Jünger auf dem stürmischen See Genezareth und die
schlafenden Jünger um den angstvollen Jesus im Garten Gethsemane. Auf der
Mitteltafel aber sollte die Gemeinde zu sehen sein, singend wie bei der ersten
Begegnung.
Spätestens beim ersten Besuch des Kirchenvorstandes im Kreuzberger
Atelier aber wurden Bedenken laut: Wieso sitzen wir denn da alle so einträchtig
um den Tisch zusammen, so gut können wir uns nun auch nicht leiden. Und: Man
sei doch gar zu gut zu erkennen, ob Heisig es denn nicht ein bisschen
undeutlicher machen könne. Außerdem: Eigentlich gehöre da Christus hin.
Vielleicht war das einer der Momente, wo sich der Maler an frühere Aufträge
erinnerte - so unterschiedlich reagieren Parteileitungen und Kirchenvorstände
doch nicht.
Aber er blieb unerbittlich: Es gehe um das Moment der
Authentizität, das der Szene der Überlieferung und den ewigen Werten des Neuen
Testaments das Unmittelbare, das Hier und Jetzt gegenüberstellt. Dass alle
Dargestellten unverkennbar heutige Kleidung tragen, erklärte er an den Alten
Meistern, die das biblische Geschehen auch meist in ihre Zeit verlagert haben.
Und im Grunde wären der Pastor Jaeckh und seine schöne Tochter,
der Baron und sein geistig behinderter Neffe Alexander, die Küsterin Schäfer,
die alte Bäuerin Herbst und ihr Sohn, der Dorftischler und Totengräber
Benseler, die Frau Heinemann und ihr Baby, die zwei Kinder und die Kirchenvorstandsvorsitzende
Eleonore Windel ja hier nicht nur sie selbst - sondern Archetypen, Vertreter
ihrer Generation und ihres Standes, die sich für die nächsten Jahrhunderte auf
der Altartafel versammeln.
Mit dem 11. September kamen die Zweifel, ob die trügerische
Dorfidylle zum Bildzentrum taugt. Jesus am Ölberg, der "Mann, der immer
mit diesen Gewissheiten durch die Welt gegangen ist als zweifelnder,
ängstlicher Mensch", rückte nun doch von der Seitentafel in die Mitte. Und
das war der Punkt, wo Heisig den Auftrag als eigenes Projekt erkannte: "In
der Gethsemane-Szene kannst du am meisten von deiner ganz persönlichen Angst
mit reinmalen, damit stellst du dich auf eine Augenhöhe mit den Porträtierten
aus dem Dorf. Dann ist es mehr als nur die Schilderung mehr oder weniger
skurriler Gestalten." Bis in den Pinselstrich spürt man die Dramatik des
Geschehens auf der zentralen Altartafel. Das Licht ergießt sich in einem
furiosen Farbgewitter tröstend auf den hochgereckten Jesus, oben schwebt die
Taube des Heiligen Geistes über der Szenerie. Die Jünger schlafen
traumverloren, fast mit dem Boden verschmolzen im flackernden Schein eines
Feuers - ganz rechts im Bild der Künstler selbst.
Der Konzeptionswandel wurde gemeldet - und wieder machte sich der
Gemeindevorstand auf nach Kreuzberg zur Begutachtung. Und da waren plötzlich
alle Diskussionen um das für und wider der Porträts verstummt. Hier erkannte
man sich in höherem Sinne wieder. Das war ein Andachtsbild, wie man es sich
gewünscht hatte. Wenn auch ganz anders als erwartet.
Seit Pfingsten ist das Bild in Gelliehausen und lebt sich langsam
ein. Bezahlt wurde es aus Spenden und Stiftungsgeldern, aber so richtig gehört
es der Gemeinde noch nicht. Beim Vorstand gelangen Einwände gerüchtehalber an.
"Der Herr Jesus in Jeans!", empören sich manche, und "Jesus
gehört ans Kreuz". Von einem Kirchenvorstand (nicht im Bild!) hört man
Gegrummel: "Da rackert man sich ab, und wieder wird man übergangen."
Und auch der Vorwurf, da hätte sich der Kirchenvorstand ja ein schönes Denkmal
gesetzt, wurde schon vernommen. Man tastet sich heran. Noch kreist der
Kunstdiskurs um die Nachbarn auf dem Altar, wer drauf ist und wer nicht, wie
gut sie getroffen sind. Auch ein profaner Titel ist schon gefunden:
"Herbstlandschaft" - weil gleich zwei Mitglieder der Familie Herbst
porträtiert wurden. Und schon wendet sich die Aufmerksamkeit der Mitteltafel
zu. Und irgendwann wird man merken, dass die Seitentafeln sich zum Mittelteil
verhalten wie der Bühnenvorhang zur Tragödie. Und dass der gemalte Spruch aus
dem 4. Psalm hier seine Tücken hat: Denn schließlich beschwört David (und mit
ihm die singende Gemeinde) den trügerischen Schlaf der Gerechten, wo die
Gefährten Christi ja wachen sollten.
Das Bild hat es besser als viele andere: Es wird darüber gestritten,
ihm ist Aufmerksamkeit über Generationen sicher, bis man irgendwann die Jeans
als typische Tracht des 20. Jahrhunderts akzeptiert. Und falls der neue Altar
die Gemeinde doch nicht beim Glauben hält - dann gibt es da ja noch das alte
Fresko.